Der Mix aus Auffälligkeit (auch: Unauffälligkeit und Stille), aus Familiensituation- und Struktur, dem Agieren einzelner Menschen in der Familie und - ganz wichtig - dem Bauchgefühl hilft euch, die Situation einzuschätzen.
Grundsätzlich gilt, dass jedes "deiner Kinder" betroffen sein kann. Siehst du Hinweise oder verspürst einen Verdacht: nimm dir Zeit und beobachte in den kommenden Wochen und Monaten das betreffende Kind genau. Vielleicht findest du andere Erklärungen für das Verhalten des Kindes - vielleicht erhärtet sich aber auch dein Verdacht. Sei in jedem Fall achtsam und für unterschiedliche Wege offen. Dein pädagogisches Bauchgefühl ist bei jeder Form von Kindeswohlgefährdung wichtig!
Merke: Lehrkräfte bleiben trotz der emotionalen Bindung zu den Kindern immer Lehrkräfte! Es ist wichtig für alle Beteiligten, dass Schule ein Ort ist und bleibt, der eine gewisse Distanz wahrt.
Schrittweises Vorgehen bei Verdacht
- Nimm deinen Verdacht erst einmal bewusst wahr: Worauf beruht er? Sind es Beobachtungen, ist es ein ungutes Gefühl? Was macht dieser Verdacht mit dir?
- Baue vorsichtig einen Kontakt zu dem betreffenden Kind auf und versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ohne deinen Verdacht konkret zu äußern. Schildere möglichst wertfrei deine Beobachtungen und frage nach, wie es dem Kind geht. Zeige dem Kind, dass du es siehst und seine Gefühle ernst nimmst. Auf diese Weise stellst du eine vertrauensvolle Atmosphäre her, die einen Raum für weitere Gespräche öffnet. Merke: Hier geht es ausschließlich um eine pädagogische Reaktion, nicht um detektivisches Handeln!
- Sollte das Kind sich outen, protokollierst und dokumentierst du schriftlich mit Datum nach dem Gespräch alle Informationen, die du bekommen hast. Notiere aus dem Gedächtnis auch möglichst viele Signale, die dir abseits des Gespräches bereits aufgefallen sind (z.B. aus dem Unterricht). Merke: Dieses Protokoll ist unerlässlich und kann später zu einem wertvollen "Beweis" werden, der für das Kind eingesetzt wird.
- Bei Erhärtung des Verdachtes (mit oder ohne Outing) ziehst du eine:n Kolleg:in hinzu. Vier Augen sehen mehr als zwei (Vier-Augen-Prinzip). Merke: Dieses Gespräch ist gesetzlich verpflichtend! Versuche, bei diesem vertraulichen Gespräch deine Beobachtungen und alle Informationen möglichst sachlich darzulegen. Protokolliert nun zusammen eure Beobachtungen und Gespräche. Die Qualität der protokollierten Informationen entscheidet häufig über den Fortgang und die Erfolgschancen der möglichen Interventiton / eines gerichtlichen Verfahrens.
- Ziehe professionelle Fachkräfte hinzu. Diese können deine Beobachtungen aus fachlicher Sicht einordnen und Hinweise zur weiteren Vorgehensweise geben. Gleichzeitig bieten sie dir emotionalen Beistand und können Rücksicht auch auf deine Bedürfnisse in dieser womöglich belastenden Situation nehmen.
- Schalte das Jugendamt ein und bespreche aufgrund der besonderen Situation (sexualisierte Gewalt) ein angepasstes Vorgehen. Merke: Jeder Fall ist anders. Die vorgeschlagene Herangehensweise soll verhindern, dass du deine beruflichen Kompetenzen überschreitest.
Bedenke immer:
- Lass dich nicht zu einem übereilten Handeln wie z.B. Anzeigeerstattung oder Konfrontation mit dem/der möglichen Täter:in verleiten.
- Gehe behutsam vor und intensiviere den Kontakt mit dem betreffenden Kind vorsichtig. Ermutige es, über seine Probleme zu sprechen, ohne es zu bedrängen.
- Schätze deine Grenzen ein und wende dich im Zweifelsfall an eine fachliche Beratungsstelle oder eine Kinderschutzfachkraft. Du hast ein Recht auf diese Unterstützung. Überlasse die Klärung des Verdachts professionellen Helfer:innen.
- Gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst. Es wird dir z.B. vermutlich nicht möglich sein, die "Geheimnisse" zu wahren, die das betreffende Kind dir anvertraut. Dies sollte auch offen kommuniziert werden. Versuche statt dessen, dein Vorgehen transparent zu machen und dem Kind zu versichern, dass seine Sicherheit immer im Fokus deines Handelns stehen wird.
- Entlaste, wo immer möglich, das Kind von Schuldgefühlen und Scham. Mache deutlich, dass es niemals schuld ist oder war und in keiner Weise verantwortlich für die Folgen, die der sexuelle Missbrauch nun womöglich für den/die Täter:in und die Familie hat.
Und die Polizei?
Grundsätzlich ist es natürlich wichtig, dass jede Tat angezeigt wird, damit Täter:innen nicht einfach weiter machen wie bisher.
ABER: Vor einer Anzeige sollten Lehrkräfte immer die Situation des Kindes und die Folgen einer Aussage abwägen. Ob eine Anzeige die Situation des Kindes verbessert oder aufgrund der Situation zwingend erforderlich ist, kannst du vermutlich nicht selbst einschätzen. Ziehe deshalb vor einer Anzeige grundsätzlich eine Fachberatung hinzu!